Demokratie und Diplomatie

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Von Sylke Tempel

Die Wikileaks-Dokumente dienen nicht der Wahrheitsfindung. Ganz im Gegenteil wird es für Entscheidungsträger in der Politik nun eher schwerer werden, sich ein möglichst ungeschminktes Bild zu machen.

Seit über eine Woche nun wird genüsslich Klatsch aus den Gefilden amerikanischer Diplomatie ausgebreitet. Unser Außenminister Guido Westerwelle, berichtete uns Der Spiegel mit unverhohlener Freude, sei nach amerikanischer Einschätzung "aggressiv" und "kein Genscher". Aha. Frau Merkel wiederum würde das Risiko scheuen. Welch bahnbrechende Neuigkeit. Und mit solch ungeheuren Erkenntnissen ging es weiter in der vor Erscheinen penibel gehüteten Titelgeschichte der vergangenen Woche.

Welche Einsichten gewinnen wir denn nun aus der Veröffentlichung von etwa 250 000 Dokumenten, die dem Portal WikiLeaks zugespielt wurden?

Zunächst einmal die Erkenntnis, dass wir Deutschen wohl eine infantile Gesellschaft sind, oder vom Spiegel dafür gehalten werden. Während die New York Times die außenpolitisch relevanten Dokumente über die Korruption des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai abdruckt, die Forderungen arabischer Potentaten nach einer Bombardierung des Iran oder die Einschätzung der Lage im abgeriegelten Nordkorea, versorgt das berühmte Montagsmagazin seine Leser mit Klatsch und Tratsch - für diese so genannten "Neuigkeiten" hätte es keines Datenklaus bedurft, sondern nur eines ins eigene Archiv entsandten Sonderkorrespondenten. Erst später rückte das Online-Portal des Spiegel Stück für Stück mit politisch etwas relevanteren Materialien heraus.

Wissen wir jetzt besser Bescheid in der großen, komplexen Welt amerikanischer Außenpolitik? Eben nicht. All das, was gute Geschichtsschreibung nämlich leistet - die jeweiligen Hintergründe zu erhellen, quellenkritisch die Autorenschaft eines Dokuments zu überprüfen, die Bedeutung von Botschaftsberichten für die Entscheidungsfindung innerhalb des State Department oder im Austausch mit dem Weißen Haus zu eruieren - das wird durch die Veröffentlichung roher Dokumente nicht gewährleistet. Das kann in der Kürze der Zeit selbst von außenpolitisch versierten Journalisten - von denen es in Deutschland ja nicht allzu viele gibt - auch nicht geleistet werden. Verwerflich ist das nicht. Störend, arrogant und ausgesprochen dumm ist es allerdings, diese Dokumente als ungetrübten Blick in die Küche amerikanischer Politik hochzujubeln. Denn das gerade sind sie eben nicht. Sie sind höchstens Teilchen eines sehr viel komplexeren Prozesses.

Am beunruhigendsten aber ist das arrogante Gehabe der unkritischen Gläubigen an die Segnungen des Internet. Nur weil das Internet, theoretisch jedenfalls, allen zu Verfügung steht, darf es noch lange nicht alles. Grundlage der Veröffentlichung ist eine kriminelle Tat, nämlich Diebstahl und Einbruch in eine geschützte Sphäre. Dass die Daten verantwortungslos schlecht geschützt waren - diesen Vorwurf müssen sich die USA gefallen lassen. Doch schlechte Schlösser rechtfertigen noch lange keinen Einbruch.

Aber die Veröffentlichung diene doch der Wahrheit, wird da argumentiert. "Wahrheit" - das ist ein großes Wort, das gerne benutzt wird, um die politische und intellektuelle Hybris der Propheten eines ungezügelten Informationsflusses zu verschleiern. Diplomatie ist undenkbar ohne eine geschützte Sphäre.

Wer mit dem amerikanischen Botschafter spricht, weiß, dass diese Einschätzungen weiter geleitet werden. In diesem Punkt haben Botschafter Philip Murphy und seine Kollegen in der ganzen Welt ihre Arbeit genau so gut erledigt, wie das hoffentlich auch deutsche Diplomaten tun. Die Dokumente allein, man kann es nicht häufig genug wiederholen, dienen der Wahrheitsfindung nicht. Ganz im Gegenteil wird es für Entscheidungsträger in der Politik in Zukunft schwerer werden, sich ein möglichst ungeschminktes Bild zu machen und aus möglichst vielen ungeschminkten Bildern eine Gesamtschau zu erstellen, mit deren Hilfe informierte Entscheidungen getroffen werden können.

Eine Lektion dürfen wir uns also allem Hype um die Informationsgesellschaft zum Trotz wieder einmal zu Herzen nehmen: Wir - also die Öffentlichkeit - wir müssen nicht zu jeder Zeit alles wissen.

Dr. Sylke Tempel, Journalistin, Jahrgang 1963, viele Jahre als Korrespondentin im Nahen Osten; Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" in Berlin, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. herausgegeben wird.

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